Ich wachte auf, in Schüben. Der Raum blieb zunächst noch schemenhaft, ein wirbelndes Gemisch von Weißtönen, mittendrin ein schwarzer Fleck, der sich bald als fehlende Deckenplatte entpuppen sollte. Noch war dieser Fleck der Agent meiner Ohnmacht, der mit meinen schließenden Augenlidern die Wirklichkeit verschluckte und sich als Leinwand meiner wirren Träume vor mir ausbreitete. Immer wieder schreckte ich hoch aus meinem Schlaf, die Dunkelheit schrumpfte wieder zu einem scheinheiligen kleinen Fleck, und wenn ich gerade meinte, dass sich die Konturen des Raumes langsam einstellen würden, übermannte sie mich ganz hinterrücks. So ging das für Stunden oder Minuten oder Jahre oder Tage, bis die Dunkelheit sich irgendwann in meinen Hinterkopf verkroch und das Bild endlich scharf werden ließ.
Ich befinde mich in einem Krankenzimmer. Strenges, lebensfeindlich steriles Weiß umgibt mich, bis auf die erwähnte fehlende Deckenplatte, welche einen Blick in die dunklen Abgründe des hohlen Daches ermöglicht und mir nun, da ich die Realität als so feindlich wahrnehme, ironischerweise als Trost erscheint. Ich liege auf einem Krankenbett. Anstatt einer Decke bedecken mich mehrere Ledergurte, die mich fest an das Bett fesseln. Sie scheinen mir gänzlich unnötig, da ich trotz größter Anstrengung nicht in der Lage bin, einen einzigen Muskel zu bewegen, bis auf meine Augen, welche immer noch pflichtbewusst in ihren Höhlen herumrollen und meinen nutzlosen Körper mit Informationen zwangsfüttern. Als ich jene Augen auf diesen nutzlosen Körper richte, erschrecke ich zutiefst: meine Arme und Beine sind sehnig und dünn, verschrumpelt und von der Farbe her wie eine Rosine; mein linkes Bein ist völlig verstümmelt, überall Brandschwulsten, einige Wunden scheinen noch frisch. Dies ist definitiv nicht der Körper eines jungen, sportlichen Intellektuellen. Dies ist der Körper einer Brandleiche. Panisch nach der Ursache für meine Wunden suchend rennen meine Augen den Raum ab: Auf einem Nachttischchen rechts neben mir ertränkt sich eine Petunie in einem Wasserglas, weiter hinten kann ich die Hebung eines Türrahmens erkennen. Links vom Bett stehen merkwürdige Maschinen und gut zwanzig Tropfer, die alle ihre Nadeln in meinen Arm versunken haben. Ich bin im Moment der einzige Patient im Raum, wobei es von meinem Betrachtungswinkel aus so scheint, als wäre Platz für zwei Betten, wenn nicht gar drei. Fenster hat der Raum keine. Die einzige Lichtquelle ist eine flackernde Linoleumlampe, die von oben reinweißes Licht auf die ebenfalls reinweißen Fliesen wirft, die einheitlich Boden und Wände des Raumes bedecken. An der Wand gegenüber dem Fußende meines Bettes ist eine Reihe von verbundenen, unbequem scheinenden Stühlen angebracht, von der Art, die man in Wartezimmern und Bahnhöfen findet. Auf dem zweiten von rechts sitzt eine junge Frau mit überschlagenen Beinen und blättert sichtlich gelangweilt durch eine Illustrierte.
Ich versuche, die Schrift auf dem Cover zu entziffern, kann aber bis auf das Wort „Stricken“, welches großgedruckt in roten Schnörkeln am oberen Rand steht, nichts ausmachen. Unter dem Titel ist ein Schwarz-weiß-Foto einer Vase zu sehen, aus der etwas entschieden Unpflanzliches herauslugt, was die Frau mit ihrem Finger bedeckt. Ich versuche, mich ihr gegenüber bemerkbar zu machen, auf eine Erklärung hoffend, aber meine Bemühungen, Worte zu formen, münden nur in ein kehliges Krächzen. Das scheint jedoch zu reichen, da die Frau nun das Magazin auf ihren Schoß sinken lässt und zu mir rüber sieht. Sie beugt sich etwas vor und kneift die Augen zusammen, wobei eine Strähne ihrer schulterlangen, braunen Locken in ihr Gesicht fällt. Als sie sich meines Zustandes vergewissert hat, wendet sie sich an ein unscheinbares Gerät an der Decke, welches ich davor für einen Rauchmelder hielt, und sagt mit einer Stimme, die mich an das monotone Piepen eines Herzfrequenzmessgerätes erinnert: „Er ist wach. Sie können jetzt reinkommen.“ Das Gerät an der Decke dreht sich zu mir, und ich kann darin eine Linse erkennen, die surrend ihren Fokus anpasst und dann – auf mich gerichtet – verharrt. Die Frau ignoriert alle weiteren Versuche meinerseits, Kommunikation aufzubauen, und widmet sich wieder ihrer Lektüre. Ich lasse von ihr ab und starre in die Linse. Die Linse starrt in mich, und plötzlich tut sie mir leid: die Linse kann nichts dafür, sie muss sich in meinen Augen grotesk verzerrt spiegeln, weil fremde Mächte die willenlose Maschine ausnutzen, um sich an meinem Körper zu ergötzen. Die Linse ist so unschuldig wie die Polizeihunde eines faschistischen Regimes.
Nachdem einige Zeit so vergeht, höre ich hinter der Wand zum Kopfende meines Bettes dumpfe Schritte, mehrere Fußpaare, zunächst leise und weit entfernt, von links näherkommend; plötzlich sticht ein schrilles Lachen in meinen Schädel, gefolgt von beifälligem Gekicher. Irritiert nehme ich all das auf und bin mir sicher, dass die Personen an meinem Zimmer vorbeigehen werden, da mir dieses wirklich nicht wie ein Ort für Gelächter erscheint, doch tatsächlich halten die Schritte auf Höhe des Türrahmens inne, der Türknauf dreht sich, die Tür schwingt auf, und zehn wichtig aussehende Männer, alle im selben braunen Anzug mit demselben Kurzhaarschnitt, betreten im Gänsemarsch den Raum. Der vierte schubst kichernd den dritten, welcher sich in gespielter Entrüstung wehrt. Sie wirken wie eine Klasse Grundschüler auf dem Weg zu einem Fototermin, und genau so stellen sie sich nun auch zweireihig vor dem Fußende meines Bettes auf, wobei die erste Reihe in die Knie geht. Sie zupfen etwas an ihrer Kleidung, schieben sich gegenseitig ein wenig nach rechts oder links und fixieren dann geraderückig mit feierlichem Lächeln einen Punkt über meinem Kopf, außer dem mittleren in der ersten Reihe, welcher mir in die Augen blickt und mich mit andächtiger Stimme anspricht:
„Guten Abend, Professor Cabrera! Wir sind höchst erfreut, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Ihre Forschungen im Bereich der Kryostasis endlich Frucht getragen haben.“ Kryostasis…? Der Begriff ist mir bekannt, er bezeichnet das Einfrieren von Lebewesen zwecks Konservierung, falls zukünftige medizinische Entdeckungen ein Wiederbeleben ermöglichen sollten, aber ich weiß nicht, was das mit mir zu tun hat. Erst recht nicht kann ich mich daran erinnern, in diesem Bereich Forschungen betrieben zu haben. „Zwanzig Jahre lang haben Sie - dem Spott großer Teile Ihres Kollegiums zu Trotz - jede wachende Minute mit der Ausbesserung des Gefrierprozesses verbracht, im festen Glauben daran, dass es den Medizinern zukünftiger Generationen durch ähnlich schwere Arbeit möglich sein müsste, das Blut Ihrer Patienten aufzuwärmen und sie ins Licht des Lebens zurückzuholen…“ Zwanzig Jahre!? Ich bin doch vor wenigen Jahren erst zwanzig geworden! Aber vor wie vielen Jahren genau...? „Nun ist es endlich so weit, wir haben die Technologie, um zu Lebzeiten Eingefrorene zurückzuholen, in dem Zustand, in dem sie sich zum Gefrierzeitpunkt befanden. Da dachten wir uns, Sie als Pionier und Schutzpatron der Kryostasis wären das ideale Pilotprojekt, und hier sind Sie nun, genau so, wie Sie vor so vielen Jahren“ – vor wie vielen Jahren, verdammt?! – „nach der Explosion Ihres Labors mit letzter Kraft in die Kältekammer krochen, im innigsten Glauben an deren konservierenden Fähigkeiten und im innigsten Glauben an uns, die Mediziner der Zukunft. Nun, Ihr Glaube war nicht fehlplatziert!“ Hier legt er eine kurze Pause ein, beschreibt mit seinen Armen einen Bogen und grinst süffisant. Die anderen Männer lachen auf gut einstudierte Art. „Dank modernster Medizin können wir Sie stabil in diesem Zustand halten und auf Versammlungen in der ganzen Welt als lebenden Beweis für Ihre und unsere Errungenschaften präsentieren. Sie werden endlich den Ihnen zustehenden Platz in der Ruhmeshalle der Medizin einnehmen, und diesem gottgelobten Land große Ehre erweisen!“ Mit den letzten Worten hebt sich seine Stimme, genau wie seine Hand, die er als Faust auf seine Brust legt. Die anderen neun machen es ihm gleich und stimmen johlend die Nationalhymne an. Ich versuche, über den Lärm hinweg meine Gedanken zu sammeln. Also, wenn ich in Anbetracht des Zustandes meines Körpers gezwungenermaßen davon ausgehe, dass der Mann im braunen Anzug die Wahrheit sagt und ich irgendwann nach dem Zeitpunkt, bis zu dem mein Gedächtnis reicht, anfing, Kryostasis zu recherchieren… Wie war ich dazu gekommen, als Politikwissenschaftler? Einer Tätigkeit, die meinem eigentlichen Fach so fremd ist, zwanzig Jahre zu widmen – man wird wohl von einer Obsession sprechen müssen. Was könnte diese ausgelöst haben...? Die Männer sind mit allen zwanzig Strophen der Hymne durch und bilden nun Schlangen zu beiden Seiten des Bettes. Nacheinander nehmen sie eine meiner schlaffen, gefühllosen Hände und schütteln sie ein wenig herum, wobei sie in Richtung der Linse grinsen. Der Prozess wird durch den Gurt, der meine Arme ungefähr zehn Zentimeter oberhalb meiner Hände an das Bett bindet, erschwert, was die Männer dazu zwingt, etwas in die Knie zu gehen und meine Hände in einem Winkel abzuknicken, von dem ich mir sicher bin, dass er mir sehr wehtun würde, wenn mir noch ein kleinstes bisschen Gefühl in ihnen geblieben wäre. Plötzlich fällt mir meine Tochter ein.
Lisa, meine arme Lisa! In meiner Erinnerung ein kleines Mädchen, musste sie zum Zeitpunkt meines Einfrierens bereits in ihren Zwanzigern gewesen sein, weiß Gott wie alt jetzt. Ihre Mutter und ich hatten uns gestritten, sie verließ uns, am Ende wurde mir das alleinige Sorgerecht überlassen… Wie war es ihr ergangen während meiner zwanzigjährigen Obsession? Hatte ich mich weiter angemessen um sie gekümmert? Wohl kaum. Ich hatte sie im Stich gelassen, hatte mich verschanzt, zunächst in meinem Labor, dann in meiner Kältekammer, und sie völlig allein in dieser wahnsinnig gewordenen Welt, in der die Nationalhymne zwanzig Strophen hat, zurückgelassen, ohne auch nur die Gnade zu haben, sie mit mir, ihrem Rabenvater, abschließen zu lassen. Denn ich war ja nie gestorben. Es hatte keine Beerdigung gegeben. Mein Körper war für sie immer in Reichweite gewesen, im Lager irgendeines Krankenhauses, so lebendig wie Schrödingers Katze. Ich sehe sie vor meinem geistigen Auge, eine Frau mittleren Alters mit vom Leben zerfurchtem Gesicht, leise vor einem Schaufenster in sich gesunken auf den Tod wartend. Ich will aufspringen und zu ihr rennen, ihr die Hand reichen, aber mein Körper gehorcht mir nicht; ich will sie rufen, aber meine Stimme ist nicht laut genug. Also weine ich. Die Tränen quillen aus meinen Augen wie Blut aus einer Brust, aus der soeben ein Messer gezogen wurde. Eine kullert über meine Wange in meinen offenen Mund und brennt mir auf der Zunge, der erste körperliche Reiz, seit ich aufwachte, daher unglaublich intensiv. Der Schmerz prügelt noch mehr Tränen aus meinen Augen, welche ebenfalls in meinen Mund laufen und ihrerseits weitere Tränen hervorbringen. Die Männer waren inzwischen dazu übergegangen, untereinander die Hände zu schütteln. Einer von Ihnen bemerkt, dass ich weine, und ruft entzückt aus: „Da, schaut: Freudentränen! Kein Wunder, was für eine Genugtuung er empfinden muss!“ Die anderen Männer jauchzen schwärmerisch und legen ihre Köpfe schräg. Dann gehen sie schnell zur Seite, damit die Kamera an meine Tränen heranzoomen kann. Ich gebe ihr eine Vorführung. Ich heule mir die Seele aus dem Leib, wobei mein Schluchzen mehr nach dem Rasseln einer Gefängniskette über einen plattgelaufenen Gesteinsboden klingt als nach etwas, dass ein Mensch produzieren könnte. Auf Dauer scheint dies sogar die Stimmung der Männer zu trüben, da diese, ohne alle möglichen Händeschüttelkombinationen durchgangen zu haben, nach kurzer Zeit den Raum verlassen. Ich bleibe allein zurück mit der Linse, welche sich wieder abgeschaltet hatte, der Frau, welche während des ganzen Besuches nicht einmal von ihrem Magazin aufschaute, und der Reue eines Lebens, an das ich mich nicht erinnern kann. Ich schließe die Augen und weine weiter.
Irgendwann höre ich ein Geräusch: ein Blättern, ein sanftes Streifen. Papier auf Stoff. Ich öffne die Augen. Die Frau hat ihr Magazin auf den Stuhl rechts neben ihr abgelegt und schaut mich mit sanft gerunzelter Stirn an. Als sich unsere Blicke treffen, fragt sie mich: „Könntest du bitte aufhören, so zu flennen? Ich halte das langsam echt nicht mehr aus.“ Als Antwort fall ich kopfüber in einen besonders heftigen Schluchzer, der so klingt, als werde die morsche Zugbrücke eines belagerten Schlosses zum letzten Mal heruntergelassen. Die Frau stöhnt und rollt mit den Augen. „Na gut. Dann kriegst du halt noch ein Gutenachtlied.“ Sie schließt die Augen, richtet ihren Kopf zur Decke, oder vielleicht zum Himmel, und fängt an, zu singen:
"Oh Theseus, weine nicht!
Trockne deine Tränen
an deinem Rock,
mit meinem Blut
befleckt.
Der Schmerz ist vergessen!
Nun, da der Faden zerrissen ist,
sind wir beide verstoßene Menschensöhne,
verbrüdert in unserer
Einsamkeit.
Stricke aus Ariadnes Faden ein Kissen
und lege dich neben mich
ins tote Gras.
Wenn die Ameisen kommen
sei Erde."
Ihre Stimme ist so luftig, leicht und rein wie die Bettlaken in Waschmittelwerbungen, die sich über satt grünen Feldern im Wind wiegen. Langsam legen sich meine Heulkrämpfe. Das Verlangen zu weinen ist noch da, aber jene Tränen, welche ich, um die Wünsche meiner Sirene nicht zu kränken, zurückhalte, wären Tränen der Sentimentalität. Wie schön wäre es, wenn es sich herausstellen würde, dass diese junge Frau, dieser Engel in Menschengestalt, Lisa ist! Ist sie dafür nicht zu jung…? Nein, nein; ich höre doch im Lied die Stimme meiner Tochter, wie sie mir verzeiht und mir versichert, dass es ihr gut geht! Ich entschuldige mich immer wieder, und ein letztes Mal brechen die Tränen aus meinen Augen, diesmal tatsächlich Freudentränen. Endlich umarme ich die zerfledderte Frau vorm Schaufenster, klopfe ihr auf den Rücken, wir beide weinen haltlos, und eine dritte Gestalt gesellt sich zu unserer Umarmung dazu: eine alte Freundin, die Dunkelheit, kommt aus dem Loch in der Decke angekrochen und umschließt uns mit ihrem angenehm warmen Mantel…